Eine Fahrt in die Vergangenheit

Eine Fahrt in die Vergangenheit

Sonntag, Oktober 15, 2023

Wenn die Familie zu einem kleinen Fest ruft, dann fahre ich doch gerne mal zurück in die Vergangenheit. An einem frühen Oktober Wochenende war es soweit. Ein runder Geburtstag in der Verwandtschaft brachte mich zurück nach Hameln, der Stadt, in der ich seit Anfang der 70er Jahre aufgewachsen bin, zur Schule ging und diese dann ab Mitte der 80er Jahre in mehreren Abschnitten verlassen habe.

Am Samstagvormittag ging es auf die Autobahn, mit mittelstarken Verkehr  ging es am Rhein-Main Auto Ballungszentren zügig vorbei, das war fast wie ein kleines Wunder. Noch vor den Kasseler Bergen begann es zu regnen bzw. Nieseln. In meinen Gedanken war schon das erste Bild der Vergangenheit. Tiefhängende Wolken, die über die Baumwipfel des Klüt strichen und immer und immer wieder dieser feine Dunst und Niesel über der Stadt, ob im Sommer oder Winter, einfach in jeder Jahreszeit und das Licht war immer etwas fahl. Schnell verschwand dieses Bild, denn diese Husche war vorbei und fast sommerliches Licht durchflutete die Nordhessischen Berge. 

Wer die Wege nach Hameln kennt, weis dass ab einem bestimmten Zeitpunkt da nichts mehr ist mit Autobahn sonder nun noch eine Mischung aus Landes- und Bundesstraßen, die dich in die Stadt bringen, die fast jeder in der Welt von der Sage her kennt, die dort vor über 700 Jahren stattgefunden hat. Die Sage des "Rattenfängers von Hameln”. 

Auch das Weserbergland zeigte sein Schönwetter Gesicht. Auf der B1 ginge es am Multimarkt vorbei, dem ersten Shoppingcenter in der Gegend und der Wangelister Kapelle, die immer noch die Straße einen Knick machen lässt und über die Weserbrücke zum Hotel Stadt Hamel das in dem ältesten Teil und letztem Rest des ehemaligen Zuchthaus residiert. Zu dem Zuchthaus gibt es eine Legende, dass nach den Napoleonischen Kriegen die Stadt sich entscheiden konnte, ob sie eine Universität oder ein Zuchthaus haben wollte. Der Rat der Stadt entschied sich für das Zuchthaus, weil sie Angst um ihre besseren Töchter hatten, wegen der aufrührerischen Studenten. 

Nach dem freundlichen Empfang an der Rezeption begrüßte mich dann die erste Ratte und zwar die “Disco Ratte”. 

Die "Disco Ratte" in der Lobby des Hotel Stadt Hameln

Vom Zimmer aus hatte ich dann einen Blick direkt auf das Haus, in dem ich aufgewachsen bin. Heute ist es frisch saniert und beherbergt ein Hochzeits Geschäft mit Eventlocation. Das restliche Grundstück ist gestückelt in viele bebaute kleinere Parzellen. Nichts passt zueinander außer den fetten Autos, für die ein Großteil des Garten zugepflastert wurde. Nur eine Feststellung, denn die Aufgabe dieses Hauses fiel uns nicht schwer nach all den Dramen meiner Großfamilie, die ich nicht weiter ausführen möchte, denn das sind immer die gleichen Geschichten aus Großfamilien, ich glaube überall auf der Welt.

Der Hof des ehemaligen Zuchthaus

Koffer auf das Zimmer gebracht und ein schneller Gang in die Stadt, bis die anderen im Hotel ankamen.

In dem weißen Haus in der Mitte bin ich aufgewachsen

Als erstes ins Münster. Der Sakralbau, der so prägend für diese Stadt ist, von mit der Krypta, die aus der romanischen Zeit stammt, bis zum Gotischen Hochchor, der ursprünglich für das angeschlossene Kloster gebaut wurde und mit einem beeindruckenden moderne Glasfenster aus den 1950er Jahren. Das Münster war sowas wie unsere Familienkirche. Wir sind hier fast alle konfirmiert worden. Ich habe dort die legendären Weihnachtsgottesdienste nur bei Kerzenschein erleben dürfen und die Auferstehungsprozession von Ostern in den Morgen hinein. Mit der damaligen sehr lebendigen Gemeinde sind wir auch zu unserer Partnerstadt in England gefahren. Heute wirkt es etwas wie ein Museum, mit einem persönlichen Bezug. Neben der eigenen Erlebnissen sind da noch der Grabstein und die Inschrift eines Altvorderen, so wie Dinge, die Sie gestiftet haben. 

Der Hochchore im Münster von Hameln
Der Spruch zu Ehren eines meiner Altvorderen
Der Grabstein zu Ehren eines meiner Altvorderen
Der Altar im Münster

Nun weiter in die Stadt. Am Stein vorbei, der für eine Vorfahrin von uns gesetzt wurde, dieser Solitärstein für eine Frau ist der erste seiner Art in der Stadt Hameln. Diese Frau hat sich für die Pestkranken eingesetzt, erst hat sie die Pest selbst überlebt und am Ende ist sie dann doch daran gestorben. Dann kam ich in die Bäckerstraße. Viele Geschäfte waren nun Lokalitäten geworden, alle hatten Gartenwirtschaften und die Fußgängerzone war voll mit Menschen und auch die Außenbestuhlungen. 

Der Pestgedenkstein.

Damals hatte nur die einzige Eisdiele in der Bäckerstraße Stühle und Tische vor der Tür, was jedes Jahr zu Diskussionen führte, ob das nicht schrecklich, hässlich oder die Wege behinderte. Nun gut, es war Samstag später Mittag. Diese Stadt ist voll lebendig, es gibt halt wie überall Leerstände, aber sie sind nicht so auffällig wie in anderen Städten. Ich kam nur bis zum Pferdemarkt, der Marktkirche und dem Hochzeitshaus, als die Nachrichten kamen, dass alle im Hotel angekommen sind.

Die Bäckerstraße
Die Osterstraße

Auf dem Weg zum Hotel ging ich durch den Münstergarten und entdeckte, dass der “Clubraum” immer noch genutzt wurde, dieser Raum heißt nun “Escape Room”. Wir trafen uns alle in der Lobby und starteten einen Spaziergang durch die Stadt mit anschließendem Kaffee und Kuchen im Museumskaffee. Wir setzten den Rundgang fort bis zur Bungelosenstraße und über die Neue Marktstraße zurück zum Hochzeitshaus.

Der Pferdemarkt
Der unbenannte Plazt an der Ritterstraße

Für alle, die die Feinheiten der Rattenfänger Geschichte nicht kennen. Die Bungelosenstraße ist eine Gasse, in der bis heute keine Musik gemacht werden darf, denn durch diese Gasse sind die Kinder der Stadt Hameln in Jahre 1284, als letztes mit dem Rattenfänger gegangen, bevor sie in den Koppen verloren gingen, am Tage von Johni und Pauli, heute würden wir Mittsommer dazusagen.

Zurück am Hochzeitshaus guckten wir, der Erinnerung und Kindern wegen, das Glocken- und Figurenspiele an, es ist immer noch entzückend.

https://www.hameln.de/de/tourismus/altstadt-und-weserbergland/altstadt-und-stadtgeschichte/rattenfaenger-figuren-und-glockenspiel

Natürlich gibt es da auch noch eine Familienlegende dazu, denn die legendäre Erb-Urtante und Urgroßmutter von uns sind im Hochzeitshaus geboren worden und mit dem Glockenspiel, das damals noch im existierenden alten Rathaus war, aufgewachsen. Sie sollen aus Spaß so manches Mal das Spiel durcheinander gebracht oder auch am Bäckerscharren für Unruhe gesorgt haben. So die Familienlegenden. 

Die Marktkirche und das Hochzeitshaus, mit dem Glocken- und Figurenspiel

Diese Urtante war es auch, die die ersten Kostüme für das sonntägliche Rattenfängerspiel designte, in dem Ihre Großcousine den Rattenfänger spielte. Damals noch vor der Tür der Marktkirche. Heute findet dieses Spiel ja an der Stelle statt, wo einst das Rathaus stand. Auffällig ist, dass Hameln die Stadt der Ratten geworden ist, denn überall sind Ratten präsent. In Gold auf der Werderbrücke, in Messing als Stolperstein in den Gehwegen oder in Salzteig in den Souvenirshops. Ratten, Ratten, Ratten!

Messing Ratte als Stolperstein
Rattenfänger Graffiti
Leerstand gibt es auch in Hameln
Blick Richtung Pferdemarkt

Ich erinnerte mich daran, dass wir damals Diskussionen hatten, ob diese Sage denn wirklich ein gutes Markenzeichen für die Stadt ist, eigentlich kommt die Stadt dabei ja sehr schlecht weg. Erst hat die Stadt eine Rattenplage, dann will man den Kammerjäger nicht bezahlen denn mit dem Flötenspiel könnten ja auch Kinder die Ratten in der Weser ertränken und zu guter letzt wollen die Kinder der Stadt in dieser Innovations fernen Stadt nicht mehr leben und fliehen in Scharen und kommen nie wieder zurück. Mittlerweile ist es zu einem Märchen geworden und der Tourismus lässt wie das Getreide damals die Kassen klingeln. Sehr verbindend sind die Textausschnitte aus der Sage, die in die Rinnsale geschrieben sind. Nur: Soll die Geschichte mit dem Regen weggespült oder hinaus in die Welt getragen werden? Das ist mir nicht ganz klar geworden.

Einer der vielen Textfragmente in den Rinnsalen
Blick in die Osterstraße vom anderen Ende aus

Nach dem Glockenspiel gingen wir gemütlich zum “Pfannekuchen”  zum Abendessen. Es ist ein Restaurant, gegründet von einer legendären Frau, Elsa Buchwitz. Ihre Tatkraft  und der Mut, sich für den Erhalt der Altstadt von Hameln einzusetzen, sind bis heute beeindruckend. Die Pfannkuchen schmecken immer noch lecker. 

https://pfannekuchen-hameln.de/

Die Alte Marktstraße mit dem Spritzenhaus am Ende

Später saßen wir noch an der Hotelbar, als dann die Glocken für das abendliche Mahnen und Gedenken um 21:50 Uhr begannen. Dieses Läuten ist wunderschön zu hören, es hat auch eine unglaubliche Geschichte und Tradition. Nach dem 1. Weltkrieg stifteten Familien die Neuen Glocken für das Münster, denn die alten waren für den Krieg geopfert worden. Die Familien knüpfen es an eine Bedingung das jeden abend um 21:50 Uhr die Glocken in gedenken an die Opfer und  Gefallenen läuten sollten. Nach dem 2. Weltkrieg hatten die Alliierten eine Sperrstunde eingeführt, die begann um 22 Uhr, also wusste jeder in der Stadt jetzt schnell nach Hause, wenn die Glocken vom Münster begannen zu läuten.

Am nächsten Morgen machten wir einen langen Spaziergang zum alten Haus und über das Werder zurück zum Hotel. Mittags ging es zum Fest auf den Klüt. Bei diesem super sommerlichen Wetter war die Aussicht noch beeindruckender als sie je in Erinnerung war.  

Das Haus

Es war ein schönes Fest, mit dem aktuellen Betreiber auch ein wahres Vergnügen, dort Feste zu feiern.

https://www.monopol-hameln.de/

Panorama Blich auf Hamlen vom Klütturm aus

Später am Abend saßen wir noch in dem letzten Lokal, das am Sonntagabend offen war, dem Cazador (der Fänger) und resümierten darüber, wie weit diese Stadt und das Erlebte weg ist von unserem heutigen Leben. Auch all die Familienlegenden und Verwandschaftsnamen, die in Balken der Fachwerkhäuser geritzt sind, sind nur Erinnerungen, die frei im Raum schweben mit einem genetischen Bezug, das persönliche ist nicht mehr da.

Fahles, graues Licht schien am Morgen durch die Fenster des Abreise-Tages. Auf dem Weg aus der Stadt heraus bin ich noch schnell bei unserem damaligen Hausbäcker vorbeigefahren und habe mir ein Gersterbrot gekauft. 

https://www.marcelpaa.com/rezepte/gersterbrot/

Der Niesel- und Regen begleitete mich durch das Weserbergland auf dem Weg nach Hause.

Gersterbrot und das abendliche Läuten, sind die einzigen Dinge, die ich vermisse in anderen Städten, in denen ich seitdem gelebt habe.

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